Von der Baustelle in den Bundestag
Kassem Taher Saleh wurde im Irak geboren und kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland. Nach dem Abitur absolvierte er erfolgreich sein Studium im Bauingenieurwesen an der TU Dresden.
Seine berufliche Laufbahn begann er zunächst in einem Ingenieurbüro, bei dem er die Bauleitung für ein großes Projekt in Hamburg übernahm. Im Anschluss an die Tätigkeit als Bauingenieur widmete er sich vollständig seiner zweiten Leidenschaft – der Politik.
Seit 2021 ist Taher Saleh Mitglied des Deutschen Bundestages für die Partei Bündnis90/Die Grünen. Er ist zudem Obmann im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Klima und Energie sowie im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Auf seiner Homepage veröffentlicht Taher Saleh regelmäßig Beiträge über aktuelle politische Themen. Darüber hinaus ist er in den Sozialen Medien auf Instagram, LinkedIn und X (Twitter) aktiv und gibt dort Einblicke in seine Arbeit im Bundestag.
In dem folgenden Interview berichtet Taher Saleh über seinen Weg in die Politik, seine politischen Ziele für die Baubranche und seine Prognose für die zukünftige Entwicklung des Bauingenieurwesens.
Experteninterview – Dipl.-Ing. Kassem Taher Saleh
Hallo Kassem! Am besten stellst Du Dich den Leserinnen und Lesern kurz selbst vor: Wer bist Du und was machst Du beruflich?
Mein Name ist Kassem Taher Saleh. Ich bin 30 Jahre alt und bin Bundestagsabgeordneter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich habe vorher Bauingenieurwesen studiert und einige Zeit lang als Bauleiter gearbeitet. Ich komme aus Sachsen und bin groß geworden in Plauen.
Nach der Schule bin ich nach Dresden gezogen, um dort an der TU mein Studium im Bauingenieurwesen zu beginnen. Ursprünglich bin ich im Nordirak geboren in Zakho. Das ist eine Kleinstadt an der türkischen Grenze. Ich freue mich, heute dabei zu sein und vielen Dank nochmal für die Einladung.
Aus welchen Gründen hast Du Dich entschieden, Bauingenieurwesen zu studieren?
Nach der Schule hatte ich drei Studiengänge in der engeren Auswahl. Der erste davon war Sportmedizin. Ich habe einige Jahre lang Fußball gespielt und wollte einfach mit Menschen zusammenarbeiten und für Menschen etwas leisten. Der zweite war Jura, um Minderheiten und geflüchteten Menschen weiterhelfen zu können. Und der dritte Studiengang war das Bauingenieurwesen.
Für die Sportmedizin war mein NC zu schlecht und ich wollte kein Wartesemester einlegen. Jura hatte sich erledigt, nachdem ich ein Praktikum am Amtsgericht in Plauen gemacht hatte. Das war mir viel zu trocken. Die dritte Option, das Bauingenieurwesen, fand ich super faszinierend. Ich hatte immer den Traum, am Ende meines Berufs im Rentenalter mit meinen Kindern durch die Stadt zu laufen und ihnen die Bauwerke zu zeigen, an denen ich mitgewirkt hatte, und ihnen von den Herausforderungen zu erzählen. Das Gestalten des Umfeldes für die Mitmenschen – das war die Vision, die ich hatte. Ich wollte etwas Handfestes machen.
Ein zusätzlicher Vorteil war natürlich auch, dass man mit dem Bauingenieurwesen international arbeiten kann. Ich spreche fünf Sprachen und wollte immer die Freiheit haben, irgendwann einmal im Ausland zu arbeiten. Die Ingenieursprache ist international. Daher habe ich mich dazu entschieden, Bauingenieurwesen in Dresden zu studieren. Es ist Dresden geworden wegen der Nähe zu meiner Familie und zu meiner Heimatstadt. Und weil es die einzige Universität ist, an der man Bauingenieurwesen noch auf Diplom studieren kann.
Wie kam es, dass Du danach in die Politik gewechselt bist?
Ich bin damals 2003 aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet mit meinen Eltern und Geschwistern. Wir sind dann in Plauen gelandet. Dort bin ich in einem Asylheim aufgewachsen, ich war also immer mit den Behörden in Kontakt.
Als ältester Sohn, der auch relativ schnell die Sprache gesprochen hat, muss man einfach Verantwortung übernehmen. Nicht nur für sich selbst und für die Familie, sondern für die gesamte Community. Meine Eltern haben uns Kinder immer dazu erzogen, dass wir in dieser Welt nicht allein wohnen und dass wir für unser Umfeld da sein müssen.
Es wird Momente geben, in denen es Dir schlecht geht und Du Hilfe brauchst und da werden mit Sicherheit auch Menschen da sein, die Dich unterstützen. Aber man muss auch immer bereit sein, anderen Menschen etwas zurückzugeben. Ich bin daher schon als Kind mit den anderen in Behörden gegangen, habe ihnen beim Dolmetschen geholfen, sie bei den Papiersachen unterstützt oder sie zu Ärzten begleitet. Das hat mir einfach sehr viel Spaß gemacht. Ich habe mich da als Teil der Gesellschaft identifiziert.
Nach meiner Schulzeit bin ich nach Dresden gezogen und habe dort eine Hochschulgruppe mitgegründet, in der wir Kinder aus einem
weniger wohlbehüteten Elternhaus unterstützen. Das war eine Initiative, die mir extrem viel Freude bereitet hat. Außerdem war ich im Sächsischen Flüchtlingsrat als Dolmetscher aktiv und habe dort gemerkt, dass die wichtigen Entscheidungen in den Parlamenten getroffen werden.
Ich bin damals Parteimitglied geworden, um die Menschen dahinter zu sehen und die Strukturen zu erfahren: Wie denken Parteien? Wie entscheiden sie? Was ist ihnen wichtig? Das war im Prinzip meine Motivation.
Von da an ging es Schritt für Schritt. 2018 bin ich deutscher Staatsbürger geworden. 2019 hatte ich meine ersten Wahlen. 2020 wurde ich dann gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, für den Bundestag zu kandidieren. Nach vielen Gesprächen hat es dann auch geklappt und ich wurde bei der ersten Wahl als deutscher Staatsbürger in den Bundestag gewählt.
Jetzt fragen sich wahrscheinlich die Leserinnen und Leser, wieso mit Bündnis 90/Die Grünen. Das hat zwei Hauptgründe: Grund Nummer eins ist,
dass die Grünen für mich immer die Partei sind, die sich für Minderheiten einsetzen. Seien es Geflüchtete, Kinder, Frauen, Homosexuelle, Kurden. Die Grünen sehen immer die Minderheiten und die Schwachen in unserem Land und international.
Zweitens ist es für mich auch die Partei, die in die Zukunft blickt und sieht was nötig ist, um unser wunderschönes Land für die Zukunft aufzustellen. Das ist an erster Stelle die Bekämpfung der Klimakrise, ob wir wollen oder nicht. Mit der Nachhaltigkeit steht und fällt unser gesamtes Leben. Wenn wir nicht wieder die Symbiose zwischen der Natur, dem Menschen und der Wirtschaft herstellen, dann wird es uns bald nicht mehr geben. Dann werde ich nicht mehr leben, Du nicht mehr, Deine Kinder und Enkelkinder nicht mehr, dann wird es die gesamte Welt nicht mehr geben.
Das waren die zwei Gründe, wieso es für mich Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. Ich muss Dir aber auch ehrlicherweise sagen, dass die Partei nicht jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde meine Meinung widerspiegelt und das ist auch völlig legitim. Aber Bündnis 90/Die Grünen sind auf jeden Fall die Partei mit dem größten Querschnitt in der aktuellen politischen Landschaft und da fühle ich mich extrem zu Hause und bin auch froh und stolz für die Partei angetreten zu sein.
Hilft Dir Deine Erfahrung als Bauingenieur in Deiner jetzigen Rolle als Politiker?
Ja, zu 100 Prozent. Allein die Art und Weise, wie man Probleme angeht. Im Studium lernt man ja hauptsächlich, wie man ein Problem löst. Man hat eine gewisse Struktur und gewisse Muster und man wird trainiert auf mehrere Fachbereiche. Man hat auch sehr viele Fallbeispiele und muss mit spontanen Änderungen und Herausforderungen klarkommen. Außerdem gibt es immer eine zwischenmenschliche Komponente.
Das Studium hilft mir extrem bei der Politik, insbesondere natürlich auch bei der Sprache. Die Sprache in der Bauwelt ist direkt, sie klar und sie ist eindeutig. Das ist auch das, was ich an der Politik kritisiere. Vieles ist so unverständlich und vieles wird unklar kommuniziert, weil man Sorge hat, die andere Person damit eventuell zu verletzen.
Auf den Baustellen schreit man sich teilweise morgens an und abends sitzt man trotzdem gemeinsam am Tisch und trinkt zusammen, isst zusammen und dann ist die Sache erledigt. Es geht einfach um die Sache an sich. Diese klare und ehrliche Sprache fehlt mir ehrlichgesagt in der Politik. Es wird nicht so deutlich ausgesprochen und so klar kommuniziert wie auf Baustellen.
Was sind Deine drei wichtigsten politischen Ziele für den Bausektor?
Der Bausektor ist einer der wichtigsten Sektoren auf der Welt. Zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes. Nach dem Verkehrssektor ist die Baubranche der zweitgrößte CO2-Emmittent weltweit. Oder auch im Bereich der Grundbedürfnisse. Wohnen ist ein Menschenrecht und wir haben als Bauingenieure einen großen Einfluss darauf, wie wir wohnen, wie wir bauen, mit was wir bauen und so weiter. Wir gestalten und schaffen unsere neue Umwelt.
Wir sehen aber auch, dass das Recht auf Wohnen leider immer privilegierter und teurer wird. Im Bereich der Baukosten, der Finanzierung, der Zinsen und insbesondere im Bereich der Mieten. Können sich überhaupt noch alle das Wohnen leisten? Müssen wir überhaupt auf so viel Wohnfläche leben? Auch diese Themen müssen wir unbedingt debattieren und voranbringen.
Nummer drei ist die Symbiose zwischen der Bezahlbarkeit, der Nachhaltigkeit und der Umwelt. Man kann auch Gebäude bauen, die mit der Umwelt zusammenarbeiten. Ganz einfach etwa am Beispiel der Gebäudebegrünung. Da habe ich mein Gebäude, in dem ich wohne, arbeite und lebe, aber in der Außenhülle kann ich ja trotzdem die Pflanzenwelt miteinbeziehen. Ich schaffe Wohnraum für Insekten, für die Natur und für die Tierwelt. Zusätzlich hat man dadurch auch den Effekt, dass es mehr Schatten gibt und die Städte nicht weiter überhitzen.
In der Bauwelt dreht sich vieles über das Eurozeichen. Wir müssen dort hin, dass das Langfristige und das Nachhaltige miteinberechnet wird und nicht nur die Erstinvestitionen. Wir müssen den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes bei der Berechnung in der Leistungsphase Null betrachten, also bereits vor der Planung.
Bei einer Lebensdauer von 50-60 Jahren sieht man dann, wie viel Energie, Kosten, Rohstoffe und CO2 wir einsparen. Das sind gigantische Zahlen, die aktuell leider noch nicht einkalkuliert werden in der Baubranche.
Also meine drei Ziele für den Bausektor sind: Erstens die Senkung von CO2, zweitens die Bezahlbarkeit, insbesondere in Hinblick auf die Mieten, und drittens die Symbiose zwischen der Natur, dem Menschen und den Gebäuden, die wir schaffen. Dabei ist auch Digitalisierung ein wichtiger Aspekt und ein zentrales Hilfsmittel, um die Baubranche voranzubringen.
Wir können politisch die besten Konzepte, die besten Theorien, die besten Maßnahmen beschließen, am Ende sind wir auf die Menschen angewiesen: Auf die Handwerker, auf die Planer und auf die Ingenieure vor Ort, die die Konzepte, Theorien und Maßnahmenbeschlüsse dann auch umsetzen. Ohne sie geht es nicht.
Daher wird auch das Thema Fachkräftemangel in den nächsten Jahren politisch eine ganz große Debatte werden, weil alle um Arbeitskräfte kämpfen und das nicht nur in Deutschland. Pflege, Medizin, Lehrer, Baubranche – das ist ein globales Problem und demzufolge brauchen wir da die richtigen Maßnahmen, um die Menschen auch in den Bausektor und in die Handwerksbetriebe zu bekommen. Nur so können wir das Grundbedürfnis auf Wohnen und Infrastruktur für alle gleichberechtigt und bezahlbar gewährleisten.
Wie wird sich der Bedarf an Bauingenieuren – auch in Hinblick auf die genannten Ziele – in Zukunft entwickeln?
Wenn wir nur die Zahlen anschauen, sinken diese leider. Auch die Erstanmeldungen an den Universitäten sinken. Bei den Ausbildungsberufen in den Handwerksbetrieben sehen wir allerdings tatsächlich eine kleine Steigerung. Da merkt man auch, dass die Debatte im Gebäudesektor in den letzten 1-2 Jahren zugenommen hat und die Relevanz des Themas mittlerweile auch in der Gesellschaft angekommen ist. Da müssen wir jetzt weiter machen und das auch in der Politik weiter ansprechen.
Die Lobby und die Stimme von anderen Berufen sind in der Gesellschaft immer noch stärker als beim Baugewerbe. Die Attraktivität des Berufs muss sich wandeln. Man muss dabei natürlich auch die regionalen Wertschöpfungsketten stärken. Wir müssen uns auf die regionale Attraktivität fokussieren. Das ist im Grunde auch die Wurzel des Berufs. Aus den lokalen Baustoffen um mich herum schaffe ich etwas Neues. Man braucht dazu nicht immer den Beton aus Baden-Württemberg oder das Holz aus Sibirien oder den Sand aus Dubai.
Aber auch die Bauschaffenden, die Unternehmer und die Planer müssen sich weiterentwickeln in Hinblick auf die Künstliche Intelligenz und die Digitalisierung. Ich habe selbst aus meiner Berufserfahrung als Bauingenieur mitbekommen, dass das Denken leider noch zu konservativ ist. Wenn man sich die Automobilbranche anschaut, da ist die Arbeitsproduktivität in den letzten 10-15 Jahren extrem gestiegen. Die Arbeitsproduktivität im Baugewerbe hingegen hat sich nur minimal verbessert. Das darf doch nicht sein, dass wir beim Bauen so eine geringe Produktivität haben.
Da kann und wird auch das Thema Building Information Modeling ein Potenzial sein ebenso wie das Thema Künstliche Intelligenz. Muss man unbedingt, um serielle Gebäude herzustellen, alles vor Ort machen? Kann man nicht vieles auch in einer Halle produzieren und da die Kosten senken und wetterunabhängig sein? Da kann ich doch mein Potenzial extrem steigern, viel mit Robotern machen, viel mit KI machen und schaffe es dadurch auch, die Margen im Baugewerbe zu erhöhen.
Die derzeitigen Margen im Bausektor sind so gering. In anderen Industrien sind sie viel höher, weil da auch die Produktivität viel höher ist. Da sehe ich eine sehr große Lücke, wie wir bei der Finanzierung, der Bezahlbarkeit und dem Gewinn vorankommen können.
Auch da müssen wir in der Politik unsere eigenen Hausaufgaben machen. Zum Beispiel bei den ganzen Regulatorien, die wir haben. Bauen ist immer noch Ländersache. Warum muss ich anders bauen, wenn ich in Bayern, NRW oder Sachsen wohne? Das ist ein Land und als Ingenieur weiß man doch, dass der Baugrund in Sachsen anders ist als in NRW, Bayern oder Hamburg. Da brauche ich doch keine Vorschrift für.
Oder zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung und der Bauanträge. Ich war in Singapur vor einigen Wochen. Da dauert eine Baugenehmigung maximal zwei Wochen. Hier sprechen wir über Jahre und in Singapur fallen die Gebäude auch nicht zusammen.
Ich habe in meiner Zeit als Bauleiter auch eine Baustelle in Hamburg mitbetreut, den Bunker in Sankt Pauli. Da war es genauso: Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel Zeit und Energie und letzten Endes auch Geld die Regulatorien gekostet haben. Ich wurde ja schließlich auch dafür bezahlt und habe das nicht in meiner Freizeit gemacht. Das sind alles Punkte und Debatten, die wir hier in der Politik führen. Keines der Länder ist bereit, irgendeine Kompetenz an den Bund abzugeben, weil sie dann Einfluss, Macht und Geld verlieren.
Vielen Dank für das Interview! Gibt es sonst noch etwas, das Du den Leserinnen und Lesern mitteilen möchtest?
Ich wünsche Euch alles Beste, bleibt dem Beruf und der Berufsgruppe treu. Bauingenieur ist ein wunderschöner Beruf. Ihr tragt eine große Verantwortung. Ihr gestaltet das zukünftige Leben in Eurer Stadt und das Leben Eurer Mitmenschen auf dieser Welt mit.
Die Gebäude, die Ihr entwerft und die Bauwerke, die ihr erschafft, werden für Jahrzehnte und Jahrhunderte lang in Büchern, im Fernsehen, von Menschen drumherum beschrieben, dargestellt und bewohnt. Bleibt daher diesem schönen Sektor treu. Alles Gute und bleibt tapfer.